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Man hätte wohl vermuten wollen, Stuttgart sei tatsächlich Metropole! Auf dem Weissenhof war die wichtigste Werkbundsiedlung, die bekannteste Siedlung des Neuen Bauens überhaupt, entstanden. Erich Mendelsohn hatte in Zentrumsnähe sein spannungsreichstes, sein formal wohl ansprechendstes Kaufhaus, das Schocken-Kaufhaus errichtet. Darüberhinaus entstanden in Stuttgart so viele Kaufhäuser im Stil der Moderne, dass in Deutschland nur noch die Hauptstadt Berlin mithalten konnte [1], und, als wäre dies alles nicht beachtenswert genug, wuchs hier das einzige konsequent im Internationalen Stil gehaltene Hochhaus der Republik in die Höhe.
     Es war der junge, bis dato unbekannte Stuttgarter Architekt Ernst Otto Oswald, dem das spektakulärste Symbol des neuen Gestaltungswillens im diesbezüglich gewiss nicht "farblosen" Stuttgart  gelang. Spannungsvoll ließ er eine regelrechte Beton-Skulptur aus geschlossenem Blockrand in die Höhe treten. Dies war kein Abklatsch der schon damals zahllosen amerikanischen Wolkenkratzer, weder in der Gestaltung und erst recht nicht in der Konstruktion.
     Zunächst zu Letzterer: der Tagblatt-Turm war das erste Hochhaus weltweit aus Sichtbeton [2]! Eine echte Innovation, die Fassade blieb unverputzt, wurde nur mit dem Stockhammer nachbearbeitet - die amerikanischen Hochhäuser dagegen wurden in diesen Zeiten stets von einem  Stahlskelett gehalten.
     Eine entschieden andere war auch die Gestaltung der Fassaden. Endlich und gemäß des Kanons des Internationalen Stils hatte die "neue" Horizontale über die "alte" Vertikale gesiegt. Deutlich wird dieser Anspruch an den Fensterbändern und noch stärker an den Balkonen, die z. T. auch reizvoll übereck geführt sind. Hier fühlt man sich von ferne gar an Walter Gropius' berühmten Beitrag zum wenige Jahre zuvor die Architekten-Welt in Atem haltenden Hochhaus-Wettbewerb der Chicago Tribune erinnert. Auffällig des weiteren die Behandlung der obersten Stockwerke: durch eine Rückstaffelung erhält der Tagblatt-Turm einen markanten vertikalen Abschluß.
     Ungemein interessant erscheint Oswalds Umgang mit den Fassaden ganz generell: jede der vier Seiten hat nämlich ein anderes Gesicht! Nähert man sich von der Königsstraße (blickt also auf die Westseite), so hat man eine glatte, in erster Linie von den Balkonen gegliederte Fassade vor sich. Hier wird auch die Rückstaffelung besonders deutlich, welche außerdem das Tagblatt-Logo umso stärker betont.

[1] neben dem Schocken-Kaufhaus, das Kaufhaus Breuniger von Eisenlohr & Pfennig, der Mittnachtbau ebenfalls von Eisenlohr & Pfennig (1926-28), das Lichthaus Luz von Richard Döcker (1926) - eine beachtliche Zahl für diesen kleinen Zeitraum
[2] Martin Wörner und Gilbert Lupfer "Stuttgart  Ein Architekturführer"    1991  Dietrich Reimer Verlag GmbH    S.43
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Die Straßenseite (Nordfassade) dagegen wird eindeutig von einem mächtigen, hervorspringenden und vielfach horizontal geschichteten Kubus geprägt. Die Ostfassade wirkt über den gerade erwähnten und einen zweiten kleineren Kubus - dank jenes Zusammenspiels die spannendste Seite des Hochhauses. Für ein Hochhaus überraschend zeigt sich die Süd-Seite: zuviele Motive und das Fehlen einer umgreifenden Idee lassen sie nicht nur hinter die anderen Fassaden zurückfallen, entsprechend der Lage im Block wird sie gar zur Rückseite. Das wirkt zunächst interessant, bedenkt man aber die zwangsläufige Fernwirkung eines Hochhauses, so schlußendlich doch eher unvorteilhaft.
     Ernst Otto Oswalds Tagblatt-Turm bedeutet zweifellos - trotz der gerade diagnostizierten Schwäche - eines der bedeutendsten Zeugnisse des Neuen Bauens nicht nur in Deutschland. Insgeamt wurden die Proportionen gut gewählt, die konsequente Horizontalisierung mindert durchaus die Höhenwirkung. Und die städtebauliche Lösung, das Heraus-wachsen aus einer Blockrandbebauung (statt Solitär-Wirkung) in Verbindung mit einer aus heutiger Sicht noch moderaten Höhenentwicklung sorgt dafür, dass selbst die nähere Umgebung des Hochhauses nicht "erschlagen" wird.
     Bemerkenswert ist das Gebäude auch durch seine skulpturale Wirkung. Der Modernismus von Nachkriegszeit bis heute setzt stets auf eine sichtbare, die Fassade in ihrer Gesamtheit überziehende Elementierung: das industrielle Fertigprodukt als Gestaltgeber in unerbittlicher Wiederholung und strengster Rasterung. Wie wohltuend anders wirkt dagegen der Tagblatt-Turm - gleichsam aus einem Guss. Der Sichtbeton in seiner Fugenlosigkeit umfasst alle Teile zu einer einzigen Form, zu einer Form die mit ihren zahlreichen Vor- und Rücksprüngen wie eine riesenhafte Skulptur wirkt. Der Tagblatt-Turm tritt als veritable Großplastik auf, welche in dieser Qualität und Größe bis heute unerreicht bleibt - bemerkenswert!
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